Im Interview: Professor Dr. Johannes Tümler von der Hochschule Anhalt

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8 min readOct 1, 2020

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Seit 2019 hat Professor Dr. Johannes Tümler eine Professur der Ingenieurinformatik an der Hochschule Anhalt mit einem Schwerpunkt auf Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR). Zuvor forschte er jahrelang am Fraunhofer IFF Magdeburg und war in der Konzernforschung der Volkswagen AG tätig. Wir haben mit ihm über die Bedeutung von Augmented und Virtual Reality für Unternehmen in Deutschland und die Entwicklung des Ingenieurwesens gesprochen.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit VR/AR zu beschäftigen? Was waren Ihre ersten Berührungspunkte?

Ich bin im Jahr 2003 in das Thema eingestiegen. Ich war damals studentische Hilfskraft am Fraunhofer IFF Magdeburg. Ich war Student der Ingenieurinformatik an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Durch Hörensagen habe ich dann von den spannenden Projekten am Fraunhofer erfahren. Da war es fast unumgänglich, sich dort vorstellig zu machen. Mein Interesse an VR ist aber schon viel früher entstanden. In meiner Schulzeit habe ich begonnen, eine Software zu programmieren, mit der man Nvidia-Grafikkarten tunen konnte. Unter anderem hat diese ermöglicht, eine Stereo-Brille über die Grafikkarte zu betreiben.

Woran haben Sie damals am Fraunhofer IFF geforscht?

Das Fraunhofer IFF hat verschiedene Geschäftsbereiche. Ich war im Bereich “Virtuell-interaktives Training” und habe dort einem wissenschaftlichen Mitarbeiter zugearbeitet, der VR-Szenarien aufbereitet hat, wie die Visualisierung von Anlagen und die Prozesse innerhalb dieser, unter anderem für die Firma AEM aus Dessau. Hier ging es um die Montage und Demontage von Generatoren. Wir wollten auf der einen Seite darstellen, wie die Geräte funktionieren und welche Teile sich an welchen Stellen befinden. Auf der anderen Seite, wie sich diese montieren und demontieren lassen. Meine Aufgabe war dabei eine Mischung aus Software Engineering und Usability.

Darauf aufbauend habe ich den Kontakt zum IFF während meiner Studienzeit aufrechterhalten. Dadurch kam für mich ein Kontakt zu Volkswagen zu Stande. Ein Mitarbeiter der Konzernforschung Virtuelle Techniken bei Volkswagen suchte nach einer Kooperationsmöglichkeit mit dem Fraunhofer. Wie es der Zufall so wollte, war ich diese Kooperation. Ich habe dann meine Studienarbeit bei Volkswagen absolviert. Während meiner Diplomarbeit war ich beim Fraunhofer und bei Volkswagen angestellt. Ich habe mich vor allem mit Logistikprozessen und der Optimierung solcher durch Augmented und Virtual Reality beschäftigt. Es hat sich dann ein Patenschaftsvertrag zwischen Fraunhofer und Volkswagen ergeben, der mir ermöglicht hat, drei Jahre fest am Fraunhofer zu arbeiten. In dieser Zeit habe ich meine Doktorarbeit geschrieben.

Darin habe ich mich damit beschäftigt, wie verträglich solche Technologien für den Mitarbeiter sind. Also beispielsweise, wenn ein Fabrikarbeiter den ganzen Tag eine Augmented Reality-Brille trägt: Kann ich ihm überhaupt zumuten, acht Stunden am Stück mit so einer Brille zu arbeiten? Meine Aufgabe war es, ein Labor-Set-up zu entwickeln, um die Untersuchung zu starten. Da haben wir Mitarbeiter erst einmal zwei Stunden und vier Stunden am Stück ohne Pause mit Brillen arbeiten lassen. Das war damals im Logistikumfeld. Ich habe die Software entwickelt, die auf den AR-Brillen angezeigt wurde. Danach muss man auswerten, wie lange der Mitarbeiter für die Aufgaben gebraucht hat. Hat er Fehler gemacht? Wie sehr hat ihn die Arbeit belastet? Dafür hatte ich einen Partner der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg im Bereich Arbeitsmedizin.

Ich bin danach in die Konzernforschung Virtuelle Techniken bei Volkswagen eingestiegen. Dort habe ich die nächsten zehn Jahre an Industrieprojekten gearbeitet, um die Technologie im Unternehmen zu etablieren. Hier ging es vorrangig um zwei Themenbereiche: Mitarbeiter in den Fertigungsprozessen und im Training durch Augmented Reality zu unterstützen und die Frage, wie ich die Technologie industrietauglich machen kann — also wie die Technologie den Arbeitsbedingungen Stand hält.

Da gibt es eine schöne Anekdote: Ein Hardware-Lieferant kam mit der neuen Ware. Es ging um ein Tracking-System. Sie dachten, es wäre besonders industrietauglich. Dann kam ein Manager und hat die Hardware einmal hart auf den Tisch aufschlagen lassen und sie ging kaputt. Dann sagte er: “Nö, ist nicht industrietauglich.”

Gedanklich hat mich die Fraunhofer-Welt jedoch nie wirklich losgelassen. Auch die akademische Welt wollte ich nie wirklich verlassen. Ich habe auch während meiner Zeit bei Volkswagen versucht, weiter zu publizieren und Studenten zu betreuen. Das Angebot hinsichtlich meiner Entfaltungsmöglichkeiten im Bereich der Virtual und Augmented Reality war an der Hochschule Anhalt am besten. So kam es zu meiner Professur. Parallel zur Lehre versuche ich einen Forschungsbereich aufzubauen.

Was begeistert Sie am meisten an den Technologien VR/AR?

Dass man einfach alles machen kann! Vor allem VR ermöglicht mir einfach alles. Ich kann Dinge tun, die ich sonst nicht tun könnte. Und ich kann sein, wer ich sonst nicht sein könnte. Ich kann kollaborieren mit wem ich möchte. Die Technologie bietet eine ultimative Freiheit. Das ist das, was mich fasziniert. Wobei mich gleichzeitig auch die Unterschiede faszinieren, wie wir real miteinander interagieren und wie wir uns in der virtuellen Welt verhalten. Diese Unterschiede überhaupt erst einmal zu identifizieren und dann geeignet zu adressieren, sodass sie den Einsatz der Technologie nicht hindern — das ist etwas, das mich reizt und kitzelt.

Trotz dessen, dass Sie VR am meisten reizt, scheint AR eher die Technologie zu sein, an der die Industrie forscht. Ist das korrekt?

Das ist nicht so einfach mit “Ja” oder “Nein” zu beantworten. Technologisch sind wir im Bereich der VR durch einen großen Sprung in den Jahren 2015/ 2016 eigentlich in der Lage, VR-Hardware vielerorts einzusetzen. Die Hardware ist da, sie ist günstig, sie ist einfach zu nutzen. Im Bereich der AR gibt es hier auch Fortschritte. Durch die reale Komponente ist es jedoch etwas schwieriger. Das ist einfach eine zusätzliche Herausforderung. Ein Umstand, der begründet, warum manche Industrien die Technologie einsetzen und andere nicht, sind die Daten. Denn die müssen von irgendjemanden aufbereitet und interaktiv gemacht werden. Das passiert nicht von selbst. Das bedenken Unternehmen, die sich erstmalig mit der Technologie auseinandersetzen, oft nicht.

Die Großindustrie — Automobilhersteller, Anlagenbauer, die Schiffindustrie, die Flugzeugindustrie — haben einen großen Vorteil, da sie sich historisch schon länger mit dem Thema AR/VR befassen. In meiner Zeit bei Volkswagen damals im Jahr 2005 war VR/AR schon in vielen Köpfen der Entscheider. Da ging bei vielen die Ideenmaschine los und man hatte große Pläne. In den nächsten zehn Jahren fiel man dann in ein Tal der Desillusion und man schuf eher ein Bewusstsein dafür, was alles nicht geht. In der Großindustrie hat man in dieser Phase viel Wissen gewonnen. Viele der KMUs, die heute erstmalig damit in Berührung kommen, sehen die Vorteile der Technologien. Sie stehen jetzt erst an dem Punkt, an dem sie überlegen, wie sie die Technologien einsetzen könnten. Ihnen steht das Tal der Desillusion also noch bevor. Ich denke aber, dass der Prozess hier nicht so lange dauern wird, wie bei der Großindustrie, da sie von deren publizierten Erfahrungen profitieren werden.

Wo stehen wir in der VR/AR-Forschung in Deutschland im Ingenieurwesen?

Wir spielen in der xR-Forschung [Virtual, Augmented, Mixed Reality] und der Applikation vorne mit. Vor allem ein sehr großer Teil der Industrieforschung kommt aus Deutschland. Ich würde schätzen, ein Fünftel der Veröffentlichungen im Bereich der Industrieforschung zu xR weltweit kamen und kommen aus Deutschland. Das erklärt sich zum Teil durch geförderte Bundesforschungsprojekte. Eines der ersten großen Projekte war das ARVIKA-Projekt mit über 20 Partnern der Industrie, darunter BMW, Siemens, Airbus, Volkswagen und so weiter. Darauf aufbauend gab es weitere Förderprojekte, unter anderem das ARTESAS-Projekt. Darauf folgte das AVILUS-Projekt, was mein erster Einstieg in Projekte dieser Größenordnung war. Diese Projekte haben den beteiligten Partnern ermöglicht, einen realistischen Blick auf die Anwendbarkeit der Technologie zu bekommen. . Andere Projekte dieser Art und Größenordnung sind mir international nicht bekannt. Damit hat sich Deutschland einen kleinen Vorsprung in diesem Bereich verschafft.

Es gab jetzt im Sommer einen großen Projekt-Call des Bundes zur Thematik „xR zur Stärkung der sozialen Teilhabe: Interaktive Systeme der virtuellen und realen Räume — Innovative Technologien für die digitale Gesellschaft”. Das finde ich deshalb interessant, weil inzwischen der Großindustrie-Bereich verlassen wurde und man die Technologie öffnet, um sie in die gesellschaftliche Breite zu tragen. Ein zukünftiges Forschungsthema muss es sein, verschiedene AR/VR Geräteplattformen miteinander sinnvoll zu vernetzen, sodass den Anwendern je nach Aufgabe und Belieben die freie Wahl eines xR-Gerätes möglich ist.

Wie wird VR/AR die Arbeitswelt verändern?

Es gab natürlich viele Ideen, wie beispielsweise das virtuelle Büro. Ich sitze mit der VR-Brille Zuhause in meinem VR-Büro und alles ist interaktiv. Das hat sich entwickelt zu der Anwendung von Augmented Reality im Büroalltag. Ich projiziere mir virtuelle Monitore, virtuelle Informationen, virtuelle Skype-Calls irgendwo an die Wand und sie werden Bestandteil meines real-virtuellen Büroraumes. Bei solchen Ideen bin ich eher skeptisch. Wollen die Menschen solche Anwendungen überhaupt? Es ist natürlich technologisch möglich. Aber ob es die Menschen wirklich einsetzen möchten und ob es ihnen ein Benefit bringt — das bezweifle ich aktuell noch. Vielleicht werde ich mit der Zeit vom Gegenteil überzeugt. Die industrielle Einsetzbarkeit dieser Technologien ist durch die vielen Demonstratoren und Prototypen vergangener Projekte erwiesen. Wenn sich das Thema der Datenversorgung und –aufbereitung insoweit etabliert hat, dass es gewisse Software-Systeme und Dienstleister gibt, die diesen Prozess voll- oder teilautomatisieren, glaube ich, dass der VR/AR-Einsatz sich hier verstärken wird. Die Datenaufbereitung ist ein großes Hemmnis und wird oft unterschätzt.

Was kann VR/AR für den Mittelstand leisten?

Wenn man es mit der Umsetzung schafft, wäre es wohl ein Szenario, dass sich Servicetechniker Informationen On-Demand holen können. Informationen werden räumlicher präsentiert, an dem Objekt, an dem ich grade arbeite. Daran hat mir mein Kollege eine virtuelle Notiz geklebt, die ich mir anschauen kann. Zugleich werden mir die 3D-Daten von der Maschine oder in der Maschine angezeigt. Dieses Szenario ist absehbar, auch wenn wahrscheinlich nicht so schnell, wie erhofft. Im Bereich VR sind es vor allem Trainingsszenarien und die fachbereichsübergreifende Kollaboration. Alle Akteure, Produktdesigner, Konstrukteure, Logistiker können sich gemeinsam 3D-Modelle ansehen und direkt kommunizieren. Sie sehen am virtuellen Modell Konsequenzen und Auswirkungen, die spezielle Änderungen hätten.

Wie entwickelt sich VR/AR in den nächsten 5 Jahren?

Da habe ich eine nicht allzu enthusiastische Vorstellung. Als ich 2003 als Student begonnen habe, mich mit xR zu beschäftigen, haben alle gesagt: Noch fünf Jahre, dann haben alle Unternehmen die Technologie. Als ich 2006 beim Fraunhofer anfing, wurde wieder gesagt, in fünf Jahren hätten es alle Unternehmen. Im Jahr 2009 dann: In fünf Jahren hat ganz Volkswagen die Technologie und überall wird das ausgerollt. Und jetzt stellen Sie mir die Frage: Wie ist es denn eigentlich in fünf Jahren? Deshalb antworte ich jetzt nicht: In fünf Jahre ist es überall angekommen. Das sehe ich einfach nicht, das wird so nicht passieren. Die Technologien werden langsam aber sicher stärker Anwendung finden. Die Durchdringungsrate der Technologie innerhalb von Deutschland wird sich mindestens verdoppeln, vielleicht sogar verdreifachen. Gemeint ist, dass Unternehmen die Technologie und deren Anwendung für sich geprüft haben.

Was sich in jedem Fall innerhalb der nächsten fünf Jahre weiterentwickeln wird, ist der Bereich der xR-Dienstleistungsbranche. Es gibt einerseits die Unternehmen, die das einsetzen möchten. Nicht jeder wird sich jedoch leisten können, intern dafür Leute anzustellen und einzusetzen. Genau aus diesem Grund wird sich die Dienstleistungsbranche in diesem Bereich weiter ausdehnen.

Ich möchte noch anfügen, dass es wichtig ist, die Technologie nicht zu glorifizieren und dass man eine bodenständige Sicht darauf behält. xR ist etwas anderes, als sich einen Laptop zu kaufen. Die Technologie wirkt direkt am Menschen. Jeder Mensch nimmt xR anders wahr. Was für einen Geschäftsführer wie eine großartige Bereicherung wirkt, kann beim Mitarbeiter ganz anders ankommen. Man muss das im Hinterkopf haben: xR ist ein absolut individuelles Erlebnis. Wenn ich es in meine Geschäftsprozesse ausrolle, muss ich alle Personen, die daran beteiligt sind, berücksichtigen.

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