Im Porträt: SenseTime CEO Dr. Xu Li

Wegbereiter für Innovation oder eine Dystopie?

fintechcube
4 min readMay 15, 2020

Die Städte von morgen: Straßenlaternen gehen erst an, wenn ihre Sensoren Bewegung aufzeichnen. Verkehrsdaten werden durch künstliche Intelligenz (KI) in Echtzeit ausgewertet, Staus und Unfälle so vorgebeugt. Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, das Leben in Großstädten gerechter, nachhaltiger und effizienter zu gestalten. Das Start-up SenseTime hat unter anderem bahnbrechende Technologien auf dem Gebiet Smart Cities entwickelt. Ihre Gesichtserkennungs-Software ebnet jedoch auch den Weg für einen totalen Überwachungsstaat.

Der Gründer

Co-Gründer und CEO Dr. Xu Li wurde in Shanghai geboren und promovierte im Jahr 2010 in Informatik und Ingenieurwesen an der Chinese University of Hong Kong. Dr. Xu Li sammelte über zehn Jahre wissenschaftliche Erfahrung in der Produktentwicklung im Bereich der Bildverarbeitung und Mustererkennung. Vor der Gründung war er in den Forschungsinstituten von Lenovo, Microsoft Research Asia und dem OMRON Keihanna Innovation Centre tätig.

In der Presse werden Xu Li und das Start-up SenseTime als ein Hi-Tech-Unicorn im Markt der künstlichen Intelligenz bezeichnet. Das Unternehmen ist Urheber zahlreicher weltweit angewendeter KI-Lösungen und bisher kaum bekannt. Im Jahr 2018 wurde Xu Li von Ernst & Young als Entrepreneur des Jahres (China) ausgezeichnet.

Die Anfänge

An der Chinese University of Hong Kong traf Xu Li auf Mitgründer Tang Xiaoou. Mit dem Professor für Informationstechnik begann Xu Li im Multimedia Lab der Universität die Forschungsarbeit, die Basis für den späteren Erfolg der beiden Gründer werden sollte. Gemeinsam mit weiteren langjährigen Kollegen an der Universität wurde das Unternehmen SenseTime im Jahr 2014 aus dem akademischen Projekt ausgegründet.

In Mandarin lautet der Name des Start-ups “Shang Tang”. Das Unternehmen ist nach der ersten chinesischen Dynastie und deren Kaiser Tang benannt. Der Weg des Start-ups war mit der Namensgebung also bereits klar: Mit seinen Innovationen will SenseTime ganz nach oben.

Die ersten Gelder von Investoren wurden vor allem für das Recruiting von IT-Talenten und Forschung aufgewendet. Das globale Team aus Akademikern sei das Fundament des Erfolgs des Unternehmens, so Dr. Xu Li.

It is people’s unrelenting commitment that can accelerate progress in history.

Noch heute arbeitet SenseTime mit zahlreichen Universitäten weltweit zusammen. Mittlerweile hat das Start-up über 3.000 Mitarbeitende an neun Standorten, darunter über 200 Doktoranden mit dem Fachgebiet künstliche Intelligenz.

Der Aufstieg

Im Jahr 2014 entwickelte SenseTime eine Gesichtserkennungs-Software mit einer Genauigkeit von 98,52 Prozent. Die Präzision übersteigt sowohl die der von Facebook entwickelten Software als auch die des menschlichen Auges. Die Software ist bereits auf rund 100 Millionen Smartphones installiert. Durch die hohen Nutzerzahlen ist SenseTime seit 2017 in den schwarzen Zahlen. Die ursprüngliche Applikation ist für den Identifikationsnachweis (für beispielsweise Banken) entwickelt worden.

Mit seiner Face ID-Anwendung zog das Start-up die Aufmerksamkeit ihres größten Kunden auf sich: die chinesische Regierung. China investiert in zahlreiche Start-ups und verfolgt eine ambitionierte KI-Strategie, um auf diesem Gebiet Marktführer zu werden. Durch die staatliche Finanzierung gelingt zwar auf der einen Seite schneller Fortschritt und beachtliche technologische Entwicklungen, auf der anderen Seite ist deren Einsatzgebiet bereits festgelegt. So wird die Software von SenseTime genutzt, um die chinesische Bevölkerung rundum zu überwachen.

Aktuell arbeitet das Start-up an der Anwendung “Viper” und fünf Supercomputern, welche Live-Bilder der Überwachungskameras im Verkehr, auf öffentlichen Plätzen und Bankautomaten, aber auch die Smartphone-Kameras von Privatpersonen, in den größten Städten Chinas in Echtzeit auswerten sollen. Die Rechner sollen so Flüchtige aufspüren und Vermisste finden.

Erfolgsgeschichte und Weckruf

Als Gehilfe zum “Überwachungsstaat” nimmt das innovative Start-up eine kontroverse Rolle ein. Das Unternehmen stellt eine Software-Lösung bereit, welche zahlreiche ethische Bedenken und Big Brother-Szenarien im Bereich der künstlichen Intelligenz wahr werden lässt. Ohne regulatorische Einschränkungen werden den chinesischen Sicherheitsbehörden Augen und Ohren gegeben, um jeden Schritt der Bevölkerung des Landes mitzuverfolgen.

Das Start-up selbst steht jedoch für technologischen Fortschritt, der positiven Nutzen für die Wirtschaft und die Gesellschaft haben soll. SenseTime hat zahlreiche Schlüsseltechnologien in den Bereichen Bild- und Textverarbeitung, Gesichtserkennung, Fernerkundungs-Systeme, Videoanalyse und Biomedizintechnik entwickelt. Das Unternehmen hat über 700 Partner und Kunden weltweit und ist der größte Anbieter für Algorithmen-basierte Anwendungen in China.

SenseTime wurde innerhalb von vier Jahren das wertvollste KI-Start-up der Welt und hält seither die Position an der Spitze. Tech-Gigant Alibaba hat 600 Millionen in das Start-up investiert. Der Unternehmenswert des Start-Ups liegt seitdem laut Bloomberg bei mehr als drei Milliarden US-Dollar. Nach eigenen Angaben soll der Firmenwert auf 4,5 Milliarden US-Dollar steigen.

Fortschritt-Macher oder “Evil Genius”?

SenseTime will seine Kompetenzen in den Bereichen des autonomen Fahrens und Augmented Reality weiter ausbauen. In Kooperation mit Alibaba und der Hong Kong Science and Technology Parks Corporation will SenseTime im Hong Kong AI Lab den Entrepreneur-Geist der lokalen Wirtschaft und jungen Talenten in Hong Kong wecken und neue Ideen unterstützen. Dr. Xu Li bleibt damit seiner Linie treu: Innovation und erfolgreiche Entwicklung funktioniert nur mit motivierten Fachleuten und Forschung. Im Zuge der Corona-Krise bot SenseTime kostenlose Schulungen zu künstlicher Intelligenz an, welche der gesamten chinesischen Bevölkerung zur Verfügung gestellt wurden. Scheinbar ein Schritt zum eigenen Anspruch, die Welt mit künstlicher Intelligenz sozialer und gerechter zu machen? Oder doch vielmehr eine Image-Kampagne?

Das Unternehmen hat durch die Kooperation mit der chinesischen Regierung die Zügel aus der Hand gegeben — und damit die Steuerung, was mit ihren KI-Lösungen geschieht. Der Erfolg des Start-ups ist stets von einem bitteren Beigeschmack begleitet und ihr Fortschritt verliert immer mehr an gesellschaftlichen Wert: Ein Paradebeispiel dafür, dass die Debatte um künstliche Intelligenz nicht nur eine technologische, sondern stets auch eine ethische sein muss.

Über das Unternehmen:

  • Wertvollstes KI-Start-up der Welt
  • Ausgründung der Chinese University of Hong Kong
  • Hat eine Gesichtserkennungs-Software mit einer Präzision von über 98 Prozent entwickelt
  • Von der chinesischen Regierung gestützt
  • Unternehmen arbeitet an Software zur Echtzeit-Bildüberwachung in den fünf größten chinesischen Städten

Autorin: Sarah Kolberg

Sarah Kolberg ist Redakteurin bei fintechcube und hat sich in ihrer bisherigen Laufbahn vor allem mit der digitalen Transformation im Public Sector beschäftigt.

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