In der Praxis: Künstliche Intelligenz im Transportwesen
Stellen Sie sich vor: Sie sind Hersteller von Toilettenpapier. Weltweit wütet gerade eine Pandemie. Niemand weiß warum — aber die Nachfrage nach Toilettenpapier ist explodiert, die Regale regelrecht leergefegt. Gut für Ihren Umsatz — doch gar nicht so einfach für Ihre interne Logistik. Vor wenigen Jahren hätte diese Situation für Sie noch zahlreiche Nachtschichten bedeutet: Wo habe ich wie viele Paletten an Lager? Wohin muss geliefert werden, wo macht dies die Konkurrenz? Wie viele Fahrer stehen zur Verfügung, wie viele fallen krankheitsbedingt aus? Stundenläng hätten sie über Bestelleingängen, Dienstplänen und Inventarlisten gebrütet. Doch heute? Übernimmt das die künstliche Intelligenz (KI)für Sie. Und sie kriegen genug Schlaf.
Effizientere Prozesse und vorausschauende Planung
Das Transportwesen ist noch so analog organisiert, wie kaum eine andere Branche. Mündliche Preisabsprachen und Auftragsbestätigungen per Fax gehören genauso zum Alltag wie manuell erstellte Dienstpläne für die Fahrer. Entscheidungen und Planung basieren auf einer großen Menge an statischen Daten, die von keinem Akteur vollumfänglich überblickt werden können. Doch die weit verzweigten Logistik-Netzwerke sind geradezu prädestiniert für den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Denn die Lieferkettenbeziehungen sind direkt und klar, Ursache-Wirkung-Beziehungen gut abschätzbar. Entsteht beispielsweise auf einer Fahrt eine Verzögerung, ist vorhersehbar, wie sich diese auf den weiteren Prozess auswirken wird.
KI-basierte Systeme helfen, die Organisation von Lieferketten zu effizienter gestalten. Heute ist noch jeder vierte Kilometer eines LKWs auf deutschen Straßen eine Leerfahrt. Künstliche Intelligenz kann Touren intelligent miteinander verknüpfen, optimale Routen vorschlagen und so die Anzahl an Leerfahrten auf ein Minimum reduzieren. Dabei berücksichtigt sie sowohl gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten der Fahrer als auch aktuelle Ladekapazitäten und Verkehrsdaten. Aber nicht nur Dienstpläne der Fahrer optimiert die KI. Lagermitarbeiter können beispielsweise kurz vor Ankunft eines Fahrers mit der Beladung eines neuen Fahrzeuges beauftragt werden, sodass der Fahrer nach seiner Ankunft direkt wieder losfahren kann.
Dieser effizienteren Organisation durch die KI liegt „Predictive Logistics“ zugrunde, also vorausschauende Logistik. Die KI trifft anhand von Echtzeitdaten und Erfahrungswerten aus der Vergangenheit vorausschauende Entscheidungen. Echtzeitdaten wie das aktuelle Bestellaufkommen in Online-Shops, das Verkehrsaufkommen, Großanlässe oder die Staugefahr. Erfahrungswerte wie bisherige Belade- und Entladungszeiten, Fahrverhalten einzelner Mitarbeiter oder Verzögerungen durch Kundenwünsche. Nicht nur bei der vorausgehenden Planung, sondern im Prozess selbst können intelligente Systeme vorausschauende Maßnahmen ergreifen. Wird beispielsweise während einer Fahrt eine Verspätung vorausgesagt, passt die KI nachfolgende Touren an und informiert automatisiert weitere beteiligte Akteure wie Lagermitarbeiter oder Kunden.
Von der effizienteren Organisation profitieren nicht nur Transportunternehmen. Denn auch für Kunden werden Lieferketten insgesamt transparenter — von der Buchung bis hin zur Lieferung. Preisverhandlungen sind durchschaubarer, die Kommunikation im gesamten Prozess klarer und der Lieferzeitpunkt exakter vorhersehbar. Durch die Kosteneinsparungen der Transportunternehmen durch die effizienteren Prozesse profitieren zudem auch Kunden durch niedrigere Preise.
Neue Angebote und Start-ups
KI-basierte Logistiksysteme sind nicht reine Utopie — es gibt immer mehr entsprechende Angebote für Transportunternehmen. Auch große Unternehmen wie Alibaba oder Uber wollen im Markt mitmischen und tätigen milliardenschwere Investitionen. Seit 2019 ist „Uber Freight“ in Deutschland verfügbar. Die App funktioniert ähnlich wie das Uber-Angebot im Taxibereich. Auf einer Plattform finden sich potentielle Kunden und Transportunternehmen und wickeln den Auftrag vollkommen digital ab.
Aber nicht nur große Unternehmen aus dem Ausland — auch deutsche Start-ups drängen auf den vielversprechenden Markt. Das im Jahr 2016 in Hamburg gegründete Unternehmen Cargonexx arbeitet bereits mit über 8.000 Transportunternehmen zusammen. Durch „One Click Trucking“ soll das transportieren von Waren so einfach wie das Buchen einer Taxifahrt werden. Unternehmen melden auf der Plattform, wohin sie welche Fracht transportiert haben wollen. Speditionen geben an, wo gerade LKWs frei sind. Ein selbstlernender Algorithmus berechnet automatisch die optimale Verteilung der Ladungen auf verschiedene Transportfirmen. Die Software prognostiziert gar zukünftige Aufträge und lenkt Fahrer in die richtige Richtung, noch bevor ein Auftrag feststeht.
Auch das Münchner Start-up Smartlane, in das auch der bekannte TV-Investor Frank Thelen investiert hat, ist seit 2017 auf dem Markt tätig. Smartlanes Software unterstützt Logistikunternehmen dabei, Prozesse effizienter zu gestalten. Die Software bildet den gesamten Prozess digital ab und berechnet anhand von aktuellen Daten wie dem Verkehrsaufkommen sowie Erfahrungsdaten wie Beladungs- oder Entladezeiten optimale Routen und kommuniziert den aktuellen Zeitplan dem Kunden. Ressourcen können so optimal eingesetzt und die Servicequalität verbessert werden.
Automatisierung von Routineaufgaben
Künstliche Intelligenz bietet nicht nur die Möglichkeit der Prozessoptimierung. Routineaufgaben können durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz automatisiert werden. Roboter beladen und entladen beispielsweise ein Fahrzeug, während der Fahrer die gesetzlich vorgeschriebene Ruhepause abhält. DB Schenker führt zurzeit am Standort Leipzig ein entsprechendes Pilotprojekt durch und ist bisher äußerst zufrieden mit den Ergebnissen. Hersteller wie Daimler, Tesla oder Scania verkaufen bereits heute autonome Fahrzeuge für den Logistikbereich. Noch können diese aber erst auf den Betriebsgeländen eingesetzt werden, da sie noch keine Zulassung für den Straßenverkehr haben.
Vollkommen autonom fahrende LKWs auf Autobahnen sind zwar noch Zukunftsmusik. KI-basierte Fahrassistenzsysteme, beispielsweise für das Spur- oder Abstandhalten, sind in heutigen LKWs aber fast schon standardmäßig verbaut. Und vielleicht haben Sie die aktuelle Diskussion um obligatorische Abbiegeassistenten mitbekommen: Immer wieder kommt es zu tödlichen Unfällen, weil LKW-Fahrer beim Rechtsabbiegen Radfahrer übersehen. Künstliche Intelligenz kann Fahrradfahrer auch im toten Winkel erkennen, den Fahrer warnen und falls nötig eine Bremsung einleiten.
Künstliche Intelligenz kann zudem viele Routineaufgaben im Transportwesen übernehmen. Drohnen können Anlagen, Container oder Sendungen abfliegen und mittels Bilderkennung Schäden erkennen. Oder die KI berechnet die optimale und platzsparende Beladung eines Fahrzeuges oder Containers und gibt den entsprechenden Auftrag direkt an einen Roboter weiter.
Ausblick
Eine Befragung von über 100 Führungskräften in der Transportbranche durch das Institut für Operations Research und Management (inform) aus dem Jahr 2013 zeigt, dass bereits vor sieben Jahren ein Großteil der Befragten das Potenzial von künstlicher Intelligenz für ihre Branche erkannt haben. Doch laut einer Studie der Unternehmensberatung BearingPoint wurden selbst 2019 noch nicht einmal in einem Drittel aller Unternehmen der Logistikbranche entsprechende Anwendungen eingesetzt. Verantwortlichen fehlt das Know-how und aufgrund der hohen Investitionskosten wird von dem Einsatz von KI in der Logistik abgesehen. Zudem wird angenommen, dass die Akzeptanz bei den eigenen Mitarbeitern für den Einsatz von künstlicher Intelligenz nicht bestehe. Die Angst, durch automatisierte Prozesse ersetzt zu werden, sei zu groß.
Doch gerade in der Transportbranche geht es beim Einsatz von künstlicher Intelligenz bei weitem nicht um eine vollständige Automatisierung. Vielmehr bietet KI die Chance, menschliche Mitarbeiter tatkräftig zu unterstützen, sodass diese sich auf wichtige Aufgaben fokussieren können. Laut Statistik des Kraftfahrt Bundesamts fehlen jedes Jahr 40.000 LKW-Fahrer. Diese Zahl wird sich noch erhöhen, da viele Fahrer in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Eine effizientere Organisation ist daher unabdingbar.
Deutschland ist Logistik-Weltmeister und sollte darum frühzeitig in die Transportbranche der Zukunft investieren. Denn KI wird einen Paradigmenwechsel bringen: weg von einer reaktiv handelnden Transportbranche, hin zu proaktivem und vorausschauendem Handeln. Insgesamt wird die Branche dadurch schneller, weniger fehleranfällig und sicherer. Für Dr. Stefan Penthin, globaler Leiter Operations bei BearingPoint und Mitautor der Studie, ist klar:
Wir erwarten eine Entwicklung hin zu einer Zweiklassengesellschaft im Transportmanagement. Vordenker prüfen ihre aktuelle Prozessstrategie und handeln zukunftsfähig. Zögerliche Unternehmen werden mit hohen Kosten und geringerer Kundenakzeptanz Wettbewerbskompetenz verlieren.
Was Sie über den KI-Einsatz in der Logistikbranche wissen müssen:
- Künstliche Intelligenz macht die Organisation im Transportwesen effizienter und gestaltet Lieferketten vorausschaubarer und transparenter.
- Menschliche Mitarbeiter werden durch die KI nicht ersetzt. Viel mehr werden ihnen Routineaufgaben abgenommen und sie können sich auf wichtige Aufgaben fokussieren.
- Vom KI-Einsatz profitieren sowohl Transportunternehmen als auch Kunden: Transportunternahmen können durch effizientere Planung viel Kosten sparen. Für Kunden werden Preisgestaltung und Lieferprozesse transparenter.